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Besuch bei Hologate: Revolutioniert VR-Training Polizei und Bundeswehr?

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© nextpit

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Wir stehen in München vor einer Tür und wissen nicht, was sich dahinter verbirgt. Angeblich hält ein Unbekannter Geiseln in einer Wohnung fest und bedroht sie mit einem Messer. Nach mehrmaligem Klingeln treten wir die Tür ein. Ich lehne mich an einen Türrahmen und verliere plötzlich das Gleichgewicht. Dabei merke ich: Das hier ist alles nicht real! Nein, wir bei nextpit haben nicht etwa die neuesten Partydrogen-Trends ausprobiert, sondern das Unternehmen Hologate in München besucht. Und das entwickelt unter dem Namen "HGXR" ultrarealistische VR-Umgebungen, mit denen Polizei und Bundeswehr Einsätze simulieren können. Lasst uns darüber mal reden!

Schon als ich selbst noch Probleme hatte, ohne Hilfe Türen zu öffnen, kannte ich die Bundeswehr. Da mein Vater in einer Kaserne unweit von meinem Heimatort stationiert war, kam es in meiner Kindheit regelmäßig zu Ausflügen in diese kuriose Parallelwelt, wo alle Menschen grüne Kleidung trugen und sich mit einer Hand an der Stirn begrüßten. Auch wenn die Flecktarn-Uniform meines Vaters im Kindergarten immer wieder für Gelächter sorgte, wusste ich allerdings recht früh: In einer Kaserne geht es geordnet und vor allem sehr ernst zu.

Als Institution ist die Bundeswehr unter anderem darauf ausgelegt, ihre Mitglieder nie vergessen zu lassen, worum es eigentlich geht: Im Ernstfall muss man als Soldat oder Soldatin mit echten Waffen auf echte Menschen schießen – die wiederum mit echten Waffen zurückschießen. Dass man ein derartiges Szenario realgetreu und mit der nötigen Ernsthaftigkeit in einem "Spiel" abbilden kann, klingt erst einmal absurd. Das Münchener Unternehmen Hologate arbeitet seit 2013 dennoch an dieser Idee – und erzielt dabei laut eigenen Statistiken sehr positive Ergebnisse.

Sechs Sensoren, VR-Technik und eine Vibrationsweste, die Elektroschocks ausgeben kann

Zusammen mit Johanna Müssinger von inside digital – sie hat ihre Erfahrungen mit Hologate in ihrer neuesten Podcast-Folge verarbeitet und dabei Fabian Nappenbach von HTC und Leif Petersen von Hologate interviewt – habe ich Hologate im August in München besucht. Deren Headquarter nimmt in einem Münchener Gewerbegebiet gleich mehrere Stockwerke ein. Im Keller des Industriegebäudes befindet sich dabei eine eigene Simulationsumgebung für VR-Training. Der virtuelle Raum, in dem Johanna und ich uns dabei bewegen konnten, war etwa 60 m² groß. Die Umgebungen, die Hologate an anderen Orten aufgebaut hat, messen aber bis zu 1.000 m².

Eine Person mit VR-Ausrüstung steht in einem Hologate-Simulationsraum mit digitalen Grafiken an Wänden und Boden.
Dank Sensoren können wir uns frei im Raum bewegen. / © nextpit

Möglich macht das eine Mischung aus Sensoren, Computern und leistungsstarken 5G-Routern. "Während wir damals noch Rucksäcke aufsetzen mussten, in denen ganze Computer verstaut wurden, funktioniert die Technik mittlerweile kabellos.", erklärt Leif Petersen vor Ort. Inzwischen werden die VR-Brillen aber über 5G-Modems mit den simulierten 3D-Umgebungen einer leistungsstarken Rechenstation bespielt. Die Latenz ist dabei gering genug, dass sich nach dem Aufsetzen direkt ein immersives und vor allem schwindelfreies VR-Erlebnis bietet.

Die Eingewöhnung, so Hologate-CTO Jan Ottens, der selbst viele Jahre bei einem Sondereinsatzkommando der Bundeswehr war, gelingt dabei bei den meisten Teilnehmenden innerhalb weniger Sekunden.

Was die Immersion im Vergleich zu herkömmlichen VR-Brillen aber noch einmal auf ein ganz anders Level hebt, ist die Möglichkeit, sich frei im Raum bewegen zu können. Arme und Beine werden dabei über Sensoren getrackt, ein weiterer Sensor sitzt über einer Weste, die über Vibrationsmotoren noch einmal ein haptisches Feedback – etwa bei Schüssen oder Kontakt zu Gegenständen – ausgeben kann. Zusätzlich, und das mussten wir erfreulicherweise nicht testen, können die Westen auch Feedback über Elektroschocks ausgeben. Ein Hoch auf den Arbeitsschutz!

Eine blaue und schwarze Handfeuerwaffe mit elektronischen Komponenten, umgeben von Gaming-Ausrüstung.
Die Repliken der Waffen sind an echte Handwaffen der Polizei und Bundeswehr angelehnt. / © nextpit

Aber zurück zum Thema: Wichtig für die Erprobung von Einsätzen ist es Wohl oder Übel auch, den Einsatz von Waffen zu simulieren. Hierfür fertigt Hologate eigene Repliken echter Waffen an, die dann über Gaskartuschen oder Elektromotoren einen Rückstoß simulieren. Die Fake-Waffen enthalten wiederum Sensoren, mit denen ihre Position im virtuellen Raum getrackt werden kann. Und das führt zu einem großen Vorteil der simulierten Einsätze:

Denn im anschließenden De-Briefing können die Einsatzleiter den Teilnehmenden sehr genau verraten, wie sie sich im Trainingsszenario verhalten haben. Wie eingangs erwähnt, ging es bei uns um eine Geiselnahme – und da ist es unter anderem wichtig, seine Waffe eben nicht auf die Geiseln zu richten. Genau das konnten wir nachher im De-Briefing nachvollziehen. Wir sahen dabei aber etwa auch, wie wir die Umgebung auf Gefahrenquellen kontrolliert haben und könnten sogar unsere Vitaldaten über entsprechende Fitness-Tracker mit einbeziehen.

Scharfe Munition und "Schießkino" – so funktioniert klassisches Training beim Militär

Deutlich analoger funktionieren simulierte Gefechtssituationen bei der Bundeswehr. Für meinen Artikel habe ich ein Interview mit meinem Vater durchgeführt, der zwar inzwischen pensioniert ist, früher aber als Stabsfeldwebel Wolfgang Lucks Übungen begleitet und natürlich auch selbst an diesen teilgenommen hat. Grundlegend, so verriet er mir nachdem ich ihm ein Video über die VR-simulierten Übungen von Hologate gezeigt habe, gebe es zwei Arten des Trainings, die ihm in seinem Berufsalltag begleitet haben.

Einerseits gebe es Schießübungen, in denen scharfe Munition verwendet wird. Diese werden auf einer Schießbahn durchgeführt, die baulich so vorbereitet sei, dass nicht viel passieren könne. "Man schießt in eine Richtung und [die Kugel] wird in einem Kugelfang aufgefangen". Andererseits würden aber auch Übungen auf einer Gefechtsbahn durchgeführt, die sich wiederum im Freien auf einem Truppenübungsplatz befindet:

"Da muss man sich vorstellen, dass man ins Gelände reinschießt. Dabei gibt es links und rechts einen Sicherheitsbereich, an dem man nicht vorbeischießen darf. Dabei fliegen wirklich Projektile durch die Gegend. Aber dadurch, dass man Einschränkungen einhält und darauf achtet, dass niemand durchläuft, kann man solche Übungen auch sicher auf Truppenübungsplätzen durchführen.

Übungen im Gelände – also weder auf einer Schießbahn, noch auf einer Gefechtsbahn – führen die Soldaten und Soldatinnen in der Regel nicht mit scharfer Munition durch:

"Wenn wir das nicht auf einer Schießbahn machen, dann machen wir das im Gelände mit Munition, die sich "Übungsmonition" nennt. Dabei trickst man das Gewehr quasi aus. Man packt ein "Manöverpatronengerät" auf und das simuliert quasi einen Schuss. Da fliegt nichts durch die Gegend, man hat aber das Gefühl, dass man schießt. Trotzdem ist es ein hochgradiger Sicherheitsverstoß, wenn man auf Leute schießt."

Übungen bei der Bundeswehr werden also in der Regel stationär durchgeführt. Der Schütze oder die Schützin wird dabei in der Regel von zwei Personen begleitet. Diese beobachten, "wie die Person mit der Waffe umgeht, ob diese die Ladetätigkeit richtig ausführt, wie der Schießrhythmus ist und ob die Atmung kontrolliert wird". Diese Charakteristika, die ein sicheres und präzises Schießen sicherstellen sollen, werden in persona besprochen und anschließend ausgewertet.

Bei Schießübungen ziele man nicht auf Darsteller oder irgendwelche Personen. Das habe damit zu tun, dass "A nix passieren soll. B soll es auch in Fleisch und Blut übergehen, dass man nicht auf Leute zielt aus Spaß."

Nicht auf Leute zielen zum Spaß – auch im Simulator?

Genau diese Frage interessierte mich vor meinem Termin bei Hologate. Also die Frage, ob die Grenzen zwischen "VR-Training" und "VR-Spiel" nicht etwa verschwimmen können. Johanna und ich scherzten im Vorfeld des Termins darüber, ob wir nicht auch mit Seifenblasen auf Schmetterlinge schießen könnten – zugegeben haben wir beide keinen Wehrdienst geleistet und sind auch sonst eher pazifistisch unterwegs. Dennoch, oder genau deshalb, hatten wir Respekt vor den simulierten Trainingssituationen.

Eine Frau interviewt einen Mann mit einem Tablet, während im Hintergrund ein Holodeck-Setup zu sehen ist.
Hologate-CTO Jan Ottens hat uns in die virtuelle Umgebung begleitet. / © nextpit

Denn ich kenne die ersten Reaktionen, die man beobachten kann, wenn man Menschen in Spielsituationen steckt, in denen virtuelle Waffen involviert sind. Erstmal schauen, was passiert, wenn ich meinen Kumpel abknalle – oder ein Hühnchen in beliebten Counter-Strike-Maps aus alten LAN-Zeiten. Auch Kinder haben diese Reaktion, wenn man ihnen eine "Spielwaffe" in die Hand drückt. Erst einmal auf Menschen zielen und darüber lachen. Irgendeinen Reiz scheint es dabei zu geben. Erklärungsversuche in der Wissenschaft reichen von Macht zum "Mythos Mann" hin zum kindlichen Versuch, den Tod zu verstehen. Wer mehr darüber lesen will, dem empfehle ich eine spannende aber recht alte Diplomarbeit von Liane Greim, die ich bei meiner Recherche gefunden habe.

Im VR-Trainer hatten weder Johanna noch ich irgendeinen Impuls, unsere virtuelle Waffe auf irgendwen zu richten. Das liegt unter anderem daran, dass Jan Ottens von Hologate uns eine professionelle Einweisung in das Training gegeben hat und auch mit uns in den virtuellen Raum getreten ist. Dass man auch keine Fake-Waffen auf Menschen richtet, wurde als erstes beim Übergeben der Fake-Waffe mitkommuniziert. In den Testszenarien von Hologate werden Waffen so behandelt, wie man sie auch in "echten" Trainingssituationen bei der Bundeswehr und beim Militär behandelt.

Stabsfeldwebel Lucks beschrieb einen ähnlichen Umgang mit Waffen, die mit Übungsmunition geladen und damit in den meisten Fällen ähnlich harmlos sind. Er beschreibt es als "hochgradigen Sicherheitsverstoß", wenn ein Soldat damit auf Leute schießt – beziehungsweise ein Schießen vortäuscht. Dementsprechend behandelt man die eigentlich harmlosen Gegenstände so, als wären sie potenziell tödliche Gegenstände.

Ich denke, aus diesem Grund funktioniert die Immersion, also das Eintauchen und der "Glaube an die simulierte Welt", bei Hologate auch so gut. Sobald es darum ging, in das Trainingsszenario einzusteigen, ging es immer darum, dieses auch ernst zu nehmen – auch wenn ich Johanna gefilmt habe – für uns ein bekanntes Setting im Journalist:innen-Alltag – und wir vorher noch vor der Kamera Scherze gemacht haben: Sobald wir die Brille aufziehen sollten, waren wir konzentriert und erst einmal angespannt. Besonders deutlich wurde diese Täuschung für mich bei einer kleinen Falle, in die mich das Hologate-Team in meiner Übungsrunde geworfen hat.

Nach einer Fahrzeugkontrolle, bei der ich einen "Unhold" dazu bringen musste, sich auf den Boden zu legen, hatten wir die Aufgabe eigentlich schon erledigt. Als Jan und ich dann noch einen Moment in der virtuellen Realität plauderten und ich mir die Grafik angeschaut hatte, tauchte plötzlich hinter ihm eine Person mit einer Waffe auf. Die hatte der Spielleiter dort platziert und fast reflexartig führte ich den vorher gelernten Umgang mit einer Gefahrensituation noch einmal aus. In einem Computerspiel hätte ich den virtuellen Aggressor direkt abgeknallt – hier habe ich aber in den Vorgaben der Simulation gehandelt.

Simulation in der Virtual Reality bringt einen großen Vorteil

Spiele und Theaterstücke laufen immer nach bestimmten Regeln ab. Diese stecken wir ab, um die gespielte Situation möglichst glaubhaft erscheinen zu lassen. Und solange wir diese Regeln nicht durchbrechen, können Spiele echte Gefühle und Emotionen hervorrufen und unseren Herzschlag erhöhen. Und das gilt eben auch für das HGXR-Training bei Hologate. Noch einmal deutlich wurde das für Johanna und mich, als wir eine Stunde später in einem anderen Simulator wie verrückt auf Zombies geschossen haben. Hier war von Anfang an klar: Das machen wir aus Spaß und hier stellen wir uns keine echten Menschen vor.

Eine Person mit roten Haaren, die einen Laptop vor einem großen Bildschirm mit einem Holodeck-Layout verwendet.
Die Auswertung erfolgt klassisch über Tablets oder auf einem Fernseher – und zeigt dabei sehr detaillierte Infos über unsere Übung. / © nextpit

Im HXGR-Simulator ist das etwas anderes, wenn die Einsatzleiter vorher die Regeln klar abstecken. In unserem Falle haben wir die virtuellen Personen in gewisser Weise als "echte" Personen wahrgenommen, da sie in unserem "Spiel" als solch definiert wurden. Sie waren Unbeteiligte in einer Situation, in welcher es unsere Aufgabe war, diese zu schützen. Natürlich ist auch hier ein Missbrauch denkbar – die "Party-Polizei" vom G20-Gipfel in Hamburg wäre sicherlich anders mit dem Simulator umgegangen.

Was das HGXR-Training aber bei richtiger Anwendung ermöglicht, ist das Trainieren taktischer Vorgehen in Gefahrensituationen. Die Schießübungen, die die Bundeswehr in der Regel durchführt, dienen dazu, den "Dienst an der Waffe" zu lernen. Alternativ gibt es ein "Schießkino", eine Art digitale Schießbahn, bei der man zwischen Gefahr – Mann mit Sturmhaube und Waffe – und Zivilist:innen – Mutter mit Kinderwagen – unterscheiden muss.

Für Spezialkräfte gibt es zudem auch taktische Übungsmöglichkeiten. Häuserkämpfe etwa, so erzählt Stabsfeldwebel Lucks, also eine direkte Konfrontation mit einer Gegenseite, ließen sich auf Truppenübungsplätzen trainieren. Dabei würden bereits Videokameras eingesetzt, um das Vorgehen im Nachhinein beurteilen zu können. Das VR-Training ermöglicht aber eine deutlich genauere Analyse des jeweiligen Verhaltens am Einsatzort. So können Teilnehmende die Sicherheit untereinander und der virtuellen Akteure – die ja am Ende Zivilpersonen sein werden – potenziell besser gewährleisten.

Drei Personen diskutieren in einem Büroumfeld mit Mikrofonen und Kopfhörern an einem Holztisch.
Mit Fabian Nappenbach und Leif Petersen haben wir im Anschluss unseres Termins noch einen Podcast aufgenommen! / © nextpit

Laut Teilnehmerstudien erzielt Hologates HGXR-Plattform einige Erfolge: So sehen 97 Prozent der teilnehmenden Soldaten dabei einen Mehrwert für ihr "echtes" Training. 85 Prozent der Teilnehmenden könnten kritische Prozesse besser verstehen und Situationen zu 84 Prozent besser einschätzen. In einer Präsentation erzählte Leif Petersen zudem, dass sich 100 Prozent der Teilnehmenden ein derartiges Training für ihren Berufsalltag wünschen.

Johanna und ich waren hingegen froh, als wir die virtuelle Umgebung wieder verlassen konnten. Auch wenn es interessant war, den Simulator auszuprobieren und in gewisser Weise auch Spaß gemacht hat, haben wir uns ja bewusst irgendwann gegen eine Karriere bei der Polizei und bei der Bundeswehr entschieden. Dass wir hingegen beim VR-Spielen ein wenig die Zeit vergessen haben, weist noch einmal darauf hin, dass VR-Simulationen keine Spiele sind.

Sie sind eine spannende Möglichkeit, um Menschen in einer geschützten Umgebung auf Situationen vorzubereiten, in denen Routinen und ein kühler Kopf überlebenswichtig sind.

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Benjamin Lucks

Benjamin Lucks
Produkt-Tester

Benjamin arbeitet als freiberuflicher Journalist und ist dabei stets auf der Suche nach Besonderheiten, die neue Handys, Kopfhörer und Gadgets für den Leser interessant machen. Gelingt das nicht, tröstet er sich mit dem Schreiben von Kurzgeschichten und seiner Digitalkamera.

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