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Die Story von Ibelin: Manchmal ist das Internet ein wunderbarer Ort

nextpit ibelin hero
© nextpit

Auf Netflix ist in diesen Tagen die Dokumentation "Das fantastische Leben des Ibelin" erschienen. Es geht um einen jungen Norweger, der für sein Leben gern World of Warcraft spielte – und der leider bereits im Alter von 25 Jahren verstarb. Ein etwas anderer Filmtipp.

Es ist Herbst, die Tage werden kürzer und soeben jährte sich der Todestag meiner Mama. Das ist für mich die Zeit des Jahres, die manchmal etwas schwerer zu bewältigen ist, und in der ich mich ein wenig mehr in mein Schneckenhaus verkrieche und zu viele Filme und Serien schaue. So kommt es dann vermutlich zustande, dass ich in einer solchen Phase besonders sensibel und empfänglich für Filme wie "Das fantastische Leben des Ibelin" bin. 

Ein Satz vorab: Ja, ich werde Euch den Film schrecklich Spoilern im Verlauf dieses Artikels. Seid Euch dessen bewusst! Und noch was: Mir kamen mehrmals die Tränen während des Anschauens. Legt Euch also lieber Taschentücher bereit!

Der Film "Das fantastische Leben des Ibelin"

Wir haben es hier eigentlich mit einer Doku zu tun, die das Leben des "Ibelin" rekonstruiert. Mats Steen, so sein bürgerlicher Name, litt an Muskeldystrophie des Typs Ducherme – wie ich jetzt weiß, eine seltene, degenerative Muskelerkrankung, die Mats schließlich 2014 bereits das Leben kostete. 

Und ja, im Grunde ist es wirklich "nur" eine Dokumentation. Aber es ist nicht einfach nur eine Doku über einen kranken Jungen und sein Schicksal. Es ist eine Geschichte, die uns "World of Warcraft" näherbringt und uns ein Gefühl dafür gibt, was dieses Spiel für manche Menschen bedeuten kann bzw. was Gaming für Menschen bedeuten kann. Es ist eine Coming-of-Age-Story, eine Liebesgeschichte und nicht zuletzt auch eine Heldenreise. 

Lasst uns ganz kurz die Fakten abarbeiten. Der Dokumentarfilm stammt von Benjamin Ree, geht etwa 104 Minuten und debütierte im Januar 2024 beim berühmten Sundance-Film-Festival. Im März kam er dann in Norwegen in die Kinos und läuft jetzt wie erwähnt auf Netflix. Beim norwegischen Filmfestival wurde er gleich fünfmal für den dortigen Filmpreis "Amandaprisen" nominiert und konnte in zwei Kategorien – unter anderem als bester norwegischer Film – gewinnen. 

In sehr kreativer Art und Weise zeichnet der Film das Leben des Mats Steen nach, dessen World-of-Warcraft-Freunde ihn eigentlich nur als Ibelin kannten. Wir sehen alte Super-8-Filmausschnitte aus dem privaten Fundus der Familie, außerdem wurden sowohl die Familie als auch seine Freunde interviewt, um uns diesen großartigen Menschen näherzubringen. 

Damit der Film so gut funktionieren kann, brauchte es aber mehr Elemente: Da ist einmal das Spiel World of Warcraft selbst. Mats liebte das Spiel und er liebte Gaming generell. Schon als Kleinkind zeichnete sich der Krankheitsverlauf dieser üblen Erbkrankheit bei ihm ab. Die Muskeldystrophie Duchenne sorgte dafür, dass er als Kind bereits oft hinfiel, denn Becken und Beine sind zuerst betroffen. Sehr früh konnte er sich nur noch im Rollstuhl bewegen, dann die Arme nicht mehr heben und schließlich konnte er auch nur noch schwerlich atmen und essen. 

Deshalb war er nicht im Voice-Chat, sondern textete ausschließlich. Für den Film war das sehr hilfreich, weil jedes einzelne Wort und alles, was er im Spiel tat, bestens dokumentiert ist. Der Film bereitet das mit authentischen Animationen der jeweiligen World-of-Warcraft-Avatare auf und erzählt die Geschichten, die der Privatdetektiv Ibelin Redmoore in Azeroth erlebte, wo er sich meistens in den östlichen Königreichen herumtrieb und wo er im Dörfchen Goldhain in Wald von Elwynn viele Kontakte knüpfte. Er und auch seine Freunde wurden dabei von Schauspieler:innen gesprochen. Dabei achtete der Regisseur Benjamin Ree peinlichst genau darauf, Personen mit Beeinträchtigungen zu casten.

Außerdem bloggte Mats, Ihr findet sein Blog immer noch unter Musings of Life. Seine Familie erhielt kurz vor seinem Tod das Passwort und konnte dort nicht nur seine Gedanken lesen, sondern selbst einen Beitrag veröffentlichen – der Startpunkt für die Geschichte dieses Films. Dort erzählte Mats Vater Robert nicht nur vom tragischen Verlust, sondern hinterließ auch eine E-Mail-Adresse. Dadurch konnten eventuelle Freunde Kontakt aufnehmen zu Robert, zu Mats' Mutter Trude und zur Schwester Mia. 

Das Internet kann immer noch ein wundervoller Ort sein

Manchmal vergessen wir in diesen schwierigen Zeiten, dass das Internet ganz großartige Dinge bewirken und aus den verschiedensten Gründen ein ganz besonderer Ort sein kann. Mit der Veröffentlichung dieser Mail-Adresse zeigte sich das wieder einmal, denn immer mehr Menschen meldeten sich bei der Familie Steen.

Seine Eltern lebten in dem Irrglauben, ihr Sohn habe ein einsames Leben ohne echte Kontakte zur Außenwelt geführt. Erst diese Mails öffneten ihnen die Augen. Er war Mitglied der Gilde "Starlight" und dort äußerst beliebt. Und damit meine ich nicht etwa "wir kennen den"-beliebt, sondern "er war uns ein guter Freund und wichtiger Teil der Community"-beliebt. 

Im echten Leben war Mats im Rollstuhl und vielleicht auch in seinem Kopf gefangen. Seine Eltern hatten längst akzeptiert, dass ihr Sohn niemals wirkliche Freunde finden würde, eine Bedeutung in der Gesellschaft erlangen könnte, oder gar das Verliebtsein erlebt. Aber wow, sie täuschten sich da so sehr. Der Film beschreibt uns einen jungen Mann, der im Game all das ausleben konnte, was ihm im realen Leben verwehrt blieb. Er fand Freunde, rannte täglich über Stock und Stein, erlebte mit seinem kräftigen Avatar spannende Abenteuer, wurde zu einem wichtigen Gesprächspartner und Ratgeber für seine Freunde und verliebte sich sogar. 

Screenshot aus WoW zeigt Ibelin im Gespräch mit einem anderen Avatar
Mats/Ibelin hatte immer einen Rat für seine Freunde in Azeroth. / © Blizzard

Erst ganz zum Schluss erfuhren seine Freunde, dass er schwer krank war. All die Jahre zuvor behielt er das für sich. Die Krankheit spielte aber auch einfach keine Rolle und vielleicht sollte das genau das sein, was wir aus diesem wunderbaren Film mitnehmen: Egal, wie Euer Leben aussieht, welche Hürden Ihr nehmen müsst und was Euch belastet: Jeder Einzelne von uns kann einen Unterschied machen, kann wichtiger Teil der Gesellschaft sein und ein Mensch, der die Herzen anderer berührt. 

Ein weiteres Learning, oder besser gesagt eine Erinnerung: Ja, das Internet kann wundervoll sein. Angesichts von Fake-News, von Hetze, von Betrügern, von Cyberkriegen und all dem Übel der Online-Welt vergessen wir das manchmal. Ich selbst habe so unendlich tolle Menschen durchs Internet kennengelernt. Erst letztes Wochenende verbrachte ich eine großartige Zeit mit meinen Freunden, die ich alle nicht kennen würde, hätte ich nicht vor über 20 Jahren ein deutschsprachiges Depeche-Mode-Forum entdeckt. 

Egal, ob es ein Forum ist, eine Social-Media-Plattform wie Facebook oder Threads, oder eben ein Game: Überall stoßen wir auf echte Menschen. Das sind nicht nur Nicknames und Avatare. Es sind Leute mit echten Gedanken, echten Gefühlen, echten Problemen und echten Träumen. Wir sollten das nie vergessen, wenn wir wieder einmal irgendeinen Menschen in den Facebook-Kommentaren absauen, einen Mitspieler anpöbeln, oder auch einen Autor unter seinem Artikel anschreien und ihm seine Skills, Intelligenz oder sonst was abschreiben. 

Wir sollten auch nicht vergessen, was Gaming für eine große Rolle einnimmt im Leben vieler Menschen. Klar gibt es viel Irrsinn im Internet und wirklich stumpfe Games und oberflächliche Gamer. Aber nochmal: Ihr trefft dort echte Spieler mit einem echten Interesse. Manchmal ist dieses Interesse rein aufs Spiel beschränkt: Ich will nur dieses Abenteuer bestehen, diesen Schatz finden, dieses Rennen gewinnen, diesen Gegner besiegen usw. 

Aber es gibt eben eine andere Ebene. Die freundschaftlich, empathische Ebene. Hier freuen wir uns darauf, wenn wir morgen beim Spielen wieder auf die Charaktere treffen, mit denen wir uns längst auch zu privaten Themen austauschen und die wir menschlich schätzen. Gaming genießt nach wie vor nicht bei jedem einen guten Ruf. Aber ganz ehrlich: Was ist denn nachhaltiger, wenn ich Menschen kennenlernen möchte: Bei Tinder binnen Millisekunden zu entscheiden, ob ich nach links oder rechts wische und dieses Wesen dann zu treffen? Oder über eine Spielewelt wie WoW echte Kenntnis über eine Person zu erlangen und dabei alles Oberflächliche hintenan zu stellen? 

Im Spiel ist es egal, ob Ihr jung oder alt seid, hässlich wie die Nacht oder hübsch, fett oder schlank. Es ist egal, ob Ihr arm seid oder reich und ja, es ist sogar egal, ob Ihr nicht mehr gehen, eigenständig atmen oder sprechen könnt. Der Mensch, der Euch dort kennen- und schätzen lernt, der sieht nicht auf Euren Stand, Euer Aussehen oder Eure Krankheit. Dieser Mensch sieht Euch als das, was Ihr wirklich seid. Als Freund, als Partner, als Problemlöser, Zuhörer und all das, was wir uns wirklich von Menschen wünschen. Mats schrieb auf seinem Blog:

In dieser anderen Welt würde ein Mädchen weder einen Rollstuhl noch irgendetwas anderes sehen. Sie bekämen meine Seele, mein Herz und meinen Verstand, praktischerweise in einem hübschen, starken Körper. Zum Glück sieht so ziemlich jeder Charakter in dieser virtuellen Welt großartig aus.

Und genau so ein Mensch wie oben beschrieben war Mats. Ein Problemlöser, eine starke Schulter zum Anlehnen, eine ganz sonnige Seele mit sehr viel Humor und einem goldenen Herz. Seine Eltern bescheinigten ihm sein ganzes Leben lang, was für ein guter Kerl er ist mit einem feinen Charakter. Aber sie ahnten dennoch nicht, wie viel Impact er auf ganz viele Menschen hatte, die weit entfernt in anderen Ländern lebten. 

Schmerzhaft vermisst, niemals vergessen!

Und so geht der Film dann zu Ende. Mit Bildern von der Beerdigung, zu der auch einige seiner WoW-Freunde aus Ländern wie Dänemark oder den Niederlanden angereist waren, denen Mats wirklich etwas bedeutete. Auch Lisette war dort, also der Mensch, für den Mats mehr fühlte als nur Freundschaft. Sie haben sich nie persönlich in die Augen sehen können – und als Sargträgerin war sie ihm dann plötzlich doch so nahe wie nie zuvor zu seinen Lebzeiten. Das ist schrecklich traurig, irgendwie aber auch versöhnlich. 

Ich hoffe, Ihr seht es mir nach, dass ich in diesem oft sehr technischen Medium mal kein neues Smartphone angepriesen habe, oder dass mal keine aktualisierte Software die Hauptrolle spielt. KI scheißt uns in absehbarer Zeit mit Geschichten und Songs und Bildern zu und ich habe das Gefühl, allein schon deswegen müssen wir uns wieder mehr um die wirklich echten Geschichten kümmern. 

So echt wie die Geschichte von Mats aka Ibelin, der weder vor seiner Krankheit, noch vor Schmerzen oder dem Tod Angst hatte. Seine einzige Angst war es, vergessen zu werden. Dieser Film sorgt dafür, dass sein Leben nicht vergessen wird. Jede Berichterstattung, so hoffe ich, trägt auch dazu bei, dass Mats Steen niemals vergessen wird, ebenso jeder von Euch, der den Film sieht, seinen Freunden davon berichtet und die Artikel zum Film und zu Mats teilt. 

Aber auch Blizzard Entertainment, verantworltich für World of Warcraft, hält sein Andenken in Ehren. Östlich von Goldhain liegt der Crystal Lake. Dort befindet sich ein Abbild des echten Grabsteins, der in Oslo an Mats Grab steht. Auch auf dem echten Grabstein ist sein Spielername Ibelin erwähnt, außerdem der Satz "deeply missed, but never forgotten."

Screenshot aus dem Spiel WoW zeigt den Grabstein von Ibelin
Dieser Grabstein ist dem echten Grabsttein auf dem Osloer Friedhof 1:1 nachempfunden. / © Blizzard

Ich kenne mich nicht aus mit World of Warcraft. Aber ich habe heute gelernt, dass man nicht einfach so eine Kerze im Spiel anzünden kann zu Ehren einer Person. Diese Kerzen gibt es nur an einem bestimmten Ort und sie können nicht weitergegeben werden. Außerdem brennen sie lediglich 15 Minuten. Dieses Grab ist aktuell zu einer Pilgerstätte geworden, wo sich viele Spieler:innen blicken lassen und Mats ehren. Sie zünden dort virtuelle Kerzen an und sorgen so dafür, dass das Licht nie ausgeht an seinem Grab und er niemals vergessen wird. 

Am 18. November 2014, also ziemlich exakt vor zehn Jahren starb Mats Steen. Bis heute hat man ihn nicht vergessen und ich bin sicher, dass wir ihn für lange, lange Zeit auch nicht vergessen werden. 

Epilog

Wertvolle Lektion gelernt, Herr Drees: Jeder von uns kann einen Unterschied machen. Aktuell verkauft Blizzard das Reven-Paket an seine Spieler:innen. Für 20 Dollar erhaltet Ihr einen kleinen Fuchs, der im Spiel Euer Haustier ist. Wieso ich Euch das erzähle? Weil Blizzard noch bis Januar 2025 die kompletten Einnahmen in Gedenken an Ibelin an CureDuchenne weiterleitet – einer global arbeitenden gemeinnützigen Organisation. Die kümmert sich um Forschung und Patientenbetreuung und verbessert und verlängert dadurch das Leben von Menschen, die an dieser fortschreitenden neuromuskulären Krankheit leiden.

Wir alle, auch jeder von Euch, machen einen Unterschied. Und jeden Tag entscheiden wir viele Male selbst, ob wir durch eine Aktion das Leben von irgendwem besser machen – oder schlechter. Tut mir den Gefallen, und seid bitte die Menschen, die das Leben anderer besser machen. Und falls Ihr bislang Probleme mit Computerspielen hattet: Denkt dran, dass diese Games vielen Menschen Türen zu unendlich großen Welten aufmachen können – auch, wenn wir das von außen so nicht immer auf Anhieb erkennen.

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Carsten Drees

Carsten Drees
Senior Editor

Fing 2008 an zu bloggen und ist irgendwie im Tech-Zirkus hängengeblieben. Schrieb schon für Mobilegeeks, Stadt Bremerhaven, Basic Thinking und Dr. Windows. Liebt Depeche Mode und leidet mit Schalke 04.

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