Im April dieses Jahres landete eine Pressemitteilung wie viele andere in meinem Postfach: Das indische Startup Ultrahuman kauft den Wearable-Hersteller LazyCo. Ich kannte weder das eine noch das andere. Aber der Zusatz im Titel "Metabolic Fitness Platform" war es, der mein Interesse weckte.
Durch ein Tracken des Blutzuckerspiegels verspricht der Anbieter nie dagewesene Einblicke in den eigenen Stoffwechsel – von Ernährung über Schlaf bis Sport. Nach einem Videocall mit dem Ultrahuman-CEO Mohit Kumar war ich überzeugt: Das möchte ich ausprobieren. Gut einen Monat später stand ich dann im NextPit-Büro – mit etwas Bammel und einem gefährlich aussehenden Sensor-Applikator in der Hand.
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Setup: Nadel im Arm?
Beim Glucose-Sensor setzt Ultrahuman auf den seit 2019 erhältlichen Freestyle Libre 2 von Abbott, den auch viele Diabetes-Patienten tragen, um ihren Blutzuckerspiegel zu überwachen. Die Technik ist bewährt – kein Grund zur Sorge, oder? Der Gedanke an eine dünne, flexible Nadel in der Haut sorgt bei mir allerdings für echtes Unbehagen. Bei einer Operation habe ich mehr Angst vor dem Zugang am Arm als vor der Vollnarkose und der Operation selbst. Entsprechend ambivalent waren meine Gefühle vor dem Cyborg-Experiment, zumal ich mir leider zu viele Bilder von dem Sensor angesehen hatte.
Dann fasse ich mir also ein Herz, packe den Sensor in den Applikator und stanze mir den Chip auf den Arm. Und ich spüre: Gar nichts. Die ersten zwei Tage trage ich ein gewisses Unbehagen mit mir herum irgendwo hängenzubleiben, vor allem Nachts. Im Alltag ist von dem 0,4 Millimeter dicken Filament in meiner Haut aber nichts zu merken – weder beim Sport noch beim Schlafen. Nur einmal bleibe ich am Sofa hängen und habe wenige Stunden ein leichtes Insektenstich-Gefühl. Meine Angst war unterm Strich also unbegründet, zudem Ultrahuman mit dem Sensor noch robuste Schutzpflaster mitliefert.
Das initiale Koppeln von Sensor und App geschieht durch Antippen meines neuen Aufklebers mit dem Smartphone. Allerdings spannt mich die App erst noch einmal zwei Stunden auf die Folter, bis der Sensor kalibriert ist – und warnt: Die ersten 24 Stunden können die Messwerte ungenau sein. Während des gesamten Testzeitraums hatte ich keine Probleme mit der Verbindung zwischen Sensor und Smartphone.
Ernährung als Cyborg
Dann endlich meine erste Mahlzeit als Cyborg: Sushi. Leichte japanische Kost mit Reis und Fisch? Von wegen! Der weiße Reis lässt meinen Blutzucker nach oben schießen. Die App fragt mich noch während des Essens per Push: "Was isst Du gerade?" und schickt eine Push-Notification hinterher: "Glucose-Spike erkannt!". Fasziniert beobachte ich, wie mein Blutzuckerspiegel vom unteren Rand des Zielbereichs bei 70 mg/dL binnen weniger Minuten die Obergrenze von 110 mg/dL erreicht. Kurz darauf steuert mein Körper gegen, und der Blutzucker fällt rapide auf 90 mg/dL. Auf den ersten Spike folgt der erste Crash, und ich bekomme Lust auf Süßes. Etwas Quark mit Pfirsich treibt den Blutzucker wieder an die Obergrenze. Lecker – aber gesund ist dieses Auf und Ab nicht unbedingt.
Ich fühle mich wie mit dem Kosmos-Chemielabor, nur dass ich Sushi und Pfirsich in meinen Körper kippe statt Zitronensäure und Natriumcarbonat in Indikatorlösung. Und genau hier liegt mein Aha-Erlebnis: Man kann jedem Kind – und jedem Erwachsenen – erklären, was unterschiedliche Nahrungsmittel im Körper anrichten. Klar, schnelle Kohlenhydrate sind böse, weil der Blutzucker nach oben schießt und das allerlei Schaden anrichtet. Aber solange man den Effekt nicht mit eigenen Augen sieht, ist der Lerneffekt ähnlich nachhaltig wie eine Theorie-Lektion über Phenolphtalein bei Zehnjährigen.
Mit Ultrahuman lässt sich der Schokoriegel zwischendurch nicht so einfach an der Kalorienzähler-App vorbeischummeln. Praktisch alle Lebensmittel mit nennenswert Zucker – selbst eine Handvoll Weintrauben oder zwei Feigen – sorgen für eine Push-Notification von der Ultrahuman-App: "Dein Blutzucker steigt gerade. Was hast Du gegessen?"
Jedes in der App getrackte Nahrungsmittel bekommt nun anhand der körpereigenen Blutzucker-Reaktion eine Bewertung. Daraus generiert die App für Euch anschließend Nahrungsmittel-Bestenlisten mit Euren persönlichen Top10 und Flop10. Das spannende ist hier, dass jeder Körper unterschiedlich auf verschiedene Nahrungsmittel reagiert – was für die eine gesund ist, sorgt bei dem anderen womöglich für Blutzucker-Spikes und -Crashes. Nach zwei Wochen habe ich auf jeden Fall enorm viel darüber gelernt, wie mein Körper auf unterschiedliche Nahrung reagiert.
Zum Testzeitpunkt war das Ernährungstracking über die App übrigens noch gewöhnungsbedürftig. Seit wenigen Tagen klappt das allerdings auch über MyFitnessPal – allerdings benötigt Ihr hier die Pro-Version, um die Mahlzeiten minutengenau tracken zu können und mit den Blutzuckerkurven zu synchronisieren.
Sport als Cyborg
Die zweite große Sparte der Ultrahuman-App ist Sport. Das beginnt beim Tracking Eures Blutzuckerspiegels während des Trainings und reicht bis hin zu zahlreichen Video-Workouts, die Euch die App in Abhängigkeit Eurer festgelegten Trainingsziele präsentiert. Die Workouts könnt Ihr wahlweise direkt in der Ultrahuman-App tracken – oder die einfach über einen der folgenden Services automatisch importieren lassen:
- Apple Health
- Google Fit
- Garmin
- Fitbit
- Polar
- Oura
- Suunto
- Wahoo
- Zwift
- Training Peaks
Im Test hat das in Zusammenarbeit mit der Garmin Fenix 7 hervorragend funktioniert – und auch der Import von Apple Health klappte problemlos. Die getrackten Workouts waren jeweils wenige Minuten später in der Ultrahuman-App verfügbar inklusive Blutzucker-Bewertung. Wichtig ist natürlich, dass Euer Körper beim Sport ausreichend Energie zur Verfügung hat. Die Bedürfnisse sind natürlich anders, je nachdem, ob Ihr mit Gewichten eher kleine Muskelgruppen wie die Arme trainiert oder einen Marathon lauft.
So gibt es beispielsweise Lob für einen Workout-induzierten Glucose-Spike, der darauf hindeutet, dass der Körper selbst Glucose produziert. Wie auch bei anderen Events bietet die Ultrahuman-App bei dieser sogenannten Gluconeogenese detaillierte Erklärungen für die Ursachen und positiven Auswirkungen an.
Kritik gab's im Test dagegen für Blutzucker-Einbrüche während des Trainings. Ein Beispiel dafür war ein Lauf während der Mittagspause auf weitgehend leeren Magen. Das Frühstück aus einer Birne und zwei Pfirsichen war nicht nur nicht gerade üppig, sondern sorgte mit dem hohen Zuckeranteil für einen starken Blutzucker-Spike inklusive anschließendem Einbruch. Entsprechend matschig war ich gegen Ende des Laufs und im Anschluss.
Natürlich: All diese Informationen kann man sich auch logisch ableiten und ohne Glukose-Tracker am Arm beobachten. Aber es ist einfach deutlich bequemer und einfacher nachzuvollziehen, zumal die App wirklich eindrucksvolle Analysen und sehr ausführliche Hintergrundinformationen mitliefert.
Metabolischer Score und Metabolische Vektoren
Anhand der Messwerte und der getrackten Aktivitäten und Ernährung ermittelt die Ultrahuman-App für jeden Tag einen Punktwertung zwischen 1 und 100. Wichtig ist hier natürlich, wie viel Zeit des Tages Ihr im idealen Blutzucker-Bereich zwischen 70 und 110 mg/dL verbringt. Aber auch Spikes und Einbrüche des Spiegels gilt es zu vermeiden – ideal ist ein langsames Auf und Ab.
Wie sich das erreichen lässt, erklärt die App fortlaufend während der Nutzung mit immer neuen Tipps. Bei einem Spike empfiehlt die App beispielsweise einen Spaziergang nach dem Essen oder einen Löffel Apfelessig davor – interessanterweise hat beides bei mir einen spürbaren Einfluss auf den Blutzuckerspiegel. Und auch der Unterschied zwischen schnellem und langsamem Essen ist krass. Mama hatte also wirklich recht mit dem "langsam Kauen".
Neben der Tageswertung findet Ihr in der App auch die metabolischen Vektoren. Dabei handelt es sich um eine Visualisierung, wie gut Ihr in den drei Disziplinen Fokus, Langlebigkeit und Athletik unterwegs seid. Je weniger Blutzucker-Spikes und -Einbrüche, desto besser ist die Konzentration. Je weniger Peaks und je mehr Zeit mit optimalem Blutzucker-Spiegel, desto besser die Langlebigkeit. Und klar, regelmäßige Aktivität mit idealem Blutzucker-Spiegel ist gut für die Athletik.
Außerdem bekommt Ihr auch eine Einschätzung für den täglichen HbA1c-Wert, der Hinweise darauf gibt, ob Ihr Prädiabetes oder gar Diabetes habt – oder ob alles im Lot ist. Neben den tagesaktuellen Bewertungen bietet die App auch langfristige Mittelwerte und Zusammenfassungen an, wie gut es um Eure metabolische Fitness bestellt ist.
Fazit: Zwei Wochen als Cyborg
Nach exakt zwei Wochen gibt der Sensor den Geist auf und liefert keine Ergebnisse mehr. Die Haltbarkeit ist aus hygienischen Gründen begrenzt, und ich fühle mich, als habe man mir einen Sinn geraubt. Zwei Wochen lang war mein Körper ein Labor, und die Ergebnisse haben mich zu mehr Disziplin beim Sport und vor allem bei der Ernährung angespornt – mehr, als ich es zuvor bei einem anderen Fitness-Tracker erlebt habe.
Für mich war Ultrahuman M1 eines der spannendsten Gadgets der vergangenen 15 Jahre. Ich bin wirklich gespannt, wie Blutzucker-Sensoren in den kommenden Jahren in den Mainstream einziehen werden und unsere Ernährung und Fitness verbessern. Spätestens wenn die Blutzucker-Messung optisch hinreichend präzise funktioniert und damit noch ein Stück massentauglicher wird, macht der Nutzen von Fitness-Wearables einen ordentlichen Sprung nach vorne.
Aktuell gibt es Ultrahuman M1 leider nur für Kunden in Indien – ein Start in den UAE ist demnächst geplant. Ultrahuman hat aber auch vor, seinen Service in weitere Länder und Regionen auszuweiten. Und dann ist da natürlich noch der Ultrahuman Ring, den das Startup vor wenigen Wochen vorgestellt hat und weltweit verkauft. Das Wearable für den Finger soll langfristig eine perfekte Ergänzung für den Blutzuckersensor am Oberarm sein.
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