Fairphone 5: Hört endlich auf, nur auf technische Daten zu starren!

11 Min Lesezeit 11 min 42 Kommentare 42
Fairphone 5: Hört endlich auf, nur auf technische Daten zu starren!
No Ad to show

Hört auf, von den Spezifikationen Eures Smartphones besessen zu sein, das ist ein Befehl! Im Ernst, das heilige Preis-Leistungs-Verhältnis eines Smartphones ist eine Vision von Technik, die ich immer giftiger finde. Euer Handy hat nicht den neuesten Snapdragon-SoC oder fünf Kameras mit jeweils 200 Megapixeln? Was soll's? Das ist uns völlig egal!

Auf der IFA 2023 in Berlin sprach ich mit Miquel Ballester, dem Produktmanager von Fairphone. Ich bin auch gerade dabei, das Fairphone 5 zu testen, ein Smartphone, das gerade vorgestellt wurde.

No Ad to show

Einer der Kritikpunkte, die immer wieder an Fairphone geäußert werden, ist, dass die Smartphones zu teuer sind für das, was sie leisten. Das Fairphone 5 wird für 699 Euro verkauft. In dieser Preisklasse haben Modelle wie das Nothing Phone (2) (Test), das Google Pixel 7 ( Test) oder das Xiaomi 12T Pro (Test) faktisch leistungsfähigere Datenblätter.

Aber sollten wir das nicht mit dem Pinsel der Gleichgültigkeit abtupfen? Vor ein paar Monaten hätte ich vielleicht noch nein gesagt. Aber ich beginne, meine Meinung zu ändern.

Technikbesessene sind eine sehr laute Minderheit – aber eben eine Minderheit

Diese Besessenheit von technischen Daten ist vor allem eine Sache der Technikfreaks. Ob Tester:in oder Nutzer:in, wir neigen regelmäßig dazu, zu vergessen, dass man sich in einer Blase befindet. Und vor allem vergessen wir oft, dass wir in der Minderheit sind.

Samsung, Xiaomi, Apple und Co. machen ihren Umsatz nicht mit Geeks, die die Anzahl der Bilder pro Sekunde zählen, die über den Bildschirm laufen, wenn sie eine App öffnen und schließen. Nein, sie verdienen Ihr Geld mit normalen Menschen, die nicht unbedingt etwas von Technik verstehen.

Antoine zerlegt ein Fairphone
Illustration eines Technikfreaks, der von technischen Datenblättern besessen ist. / © nextpit.

"Sie sind vielleicht in der Minderheit, aber sie sind sehr einflussreich", sagt Miquel Ballester. "Sie werden von normalen Nutzern gehört, die sie um Rat fragen, wenn sie ein technisches Produkt kaufen wollen. Wenn man eine gute Kamera sucht und sich nicht so gut auskennt, fragt man jemanden in seinem Umfeld, der sich besser auskennt als man selbst."

Dieser Begriff des Einflusses erinnert mich an ein Interview, das ich 2020 mit dem CEO von Realme, Madhav Sheth, führte. Auch er war der Ansicht, dass jeder Haushalt mit potenziellen Nutzer:innen seinen "Influencer" hat. Jemand, der mit Tech-Produkten vertraut ist und die Kaufhandlungen seines sozialen Kreises beeinflusst, indem er ihnen Ratschläge gibt.

Aber wie viele dieser Influencer interessieren sich wirklich für Nachhaltigkeit? Und wie viele Influencer sehen dies als ausschlaggebendes Kriterium für den Kauf eines technischen Produkts an, auf Kosten des Preis-Leistungs-Verhältnisses? Meiner Meinung nach sehr wenige.

Hersteller sollten weniger auf Technikbegeisterte hören

Aber Technikfreaks haben auch einen Einfluss auf die Hersteller. Wenn ihnen eine Funktion oder eine Wahl des Designs oder der Komponenten nicht gefällt, teilen die Technikfreaks dies sehr deutlich mit und die Hersteller hören oft zu, weil sie Angst haben, ihre Fangemeinde zu sehr zu verärgern.

No Ad to show

Das Problem ist nicht, dass die Hersteller auf die Technikfans hören. Meiner Meinung nach ist das eine gute Möglichkeit, die Nutzer:innen in die Entwicklung von Produkten einzubeziehen, deren Zielgruppe sie ohnehin sind. Nein, das Problem ist, dass sie ihnen zu viel zuhören.

Wenn ich mir 20 Minuten lang dabei zuhöre, wie ich mit meinem Kollegen Rubens über die Ähnlichkeiten zwischen dem Snapdragon 778 SoC und dem QCM6490 des Fairphone 5 spreche, frage ich mich, wen das wirklich interessiert?

Mein Kollege Ben hatte vor zwei Jahren in seinem Test des Fairphone 4 einen ähnlichen Gedankengang wie ich. / © NextPit

Meine Bedenken, meine Art, ein Tech-Produkt zu betrachten, stehen im Widerspruch zu den Erwartungen und Bedürfnissen gewöhnlicher Nutzer:innen, Laien eben. Und ich denke, wenn man diesen Laien fragen würde, bin ich überzeugt, dass er oder sie das Fairphone 5 nicht so beschränkt finden würde und dass unsere technikzentrierten Debatten lächerlich sind.

Ich denke, wenn die Hersteller sich ein wenig von ihrer Angst lösen würden, ihre Hardcore-Fans zu verärgern, würden sie feststellen, dass es der großen Mehrheit ihrer Kunden völlig egal ist, ob sie eine Bildwiederholrate von 120 Hz haben.

"In der Vergangenheit drehte sich auf dem Tech-Markt alles um Spezifikationen und es gab einen Wettlauf um die eine oder andere Technologie. Aber die Unternehmen haben eine große Rolle dabei zu spielen, die Leute über Technik aufzuklären. Sie könnten mehr über Nachhaltigkeit sprechen und sie zu einem viel wichtigeren Punkt in ihren Strategien machen", sagt der Fairphone-Verantwortliche.

Niemand nutzt sein Smartphone in vollem Umfang

"Doch, ich!" Los, Widerspruchsexperten, dieser Moment gehört Euch. Schreibt in die Kommentare, um mich zu widerlegen, jetzt oder nie!

Nun, nachdem Ihr Eure rhetorischen Impulse losgeworden seid, lasst uns weitermachen. Stellt Euch vor, wir hätten die Möglichkeit, eine Woche lang genau zu verfolgen und zu messen, wie wir unser Smartphone nutzen. Ich meine damit nicht, dass wir einfach nur auf die Batterieanzeige oder die Bildschirmzeit schauen, um zu sehen, wie lange wir eine Anwendung geöffnet haben.

Nein, ich meine, zu messen, wie viel RAM ich während meiner "Call of Duty Mobile"-Sitzung verbraucht habe. Oder wie viele Fotos mit 100-fachem Zoom ich gemacht habe. Wie viele Videos in 4K bei 60 FPS ich gedreht habe. Auf welche Helligkeit und welche Bildwiederholrate mein Smartphone eingestellt war.

Wenn ich eine Möglichkeit hätte, all das zu messen und zu quantifizieren, bin ich mir ziemlich sicher, dass ich nicht mehr als 50 Prozent des Potenzials meines Smartphones, das durch sein Datenblatt ermöglicht wird, ausgeschöpft habe.

No Ad to show
Gaming-Smartphones verkörpern diese überflüssige Dimension eines Ultra-Premium-Datenblattes. / © nextpit

Meine Schwester, die nicht technikbegeistert ist, hat ein iPhone 14 Pro. Und ich weiß genau, dass sie es hauptsächlich für Anrufe und Nachrichten benutzt, meine WhatsApp-Anrufe ignoriert, auf Instagram nach Memes aus dem Jahr 2018 sucht, um sie mir zu schicken, und in Safari nach zwei, drei Sachen sucht.

Ich kann den Irrsinn noch weiter treiben. Stellt Euch vor, Ihr bekommt ein Smartphone mit einem neutralen Design und einer schönen Oberfläche. Ihr wisst nicht, ob es ein High-End-Gerät ist oder nicht. Es ist unmöglich zu wissen, ob es ein iPhone, ein Xiaomi oder ein Samsung ist. Und wir verpassen diesem Smartphone die technischen Daten des Fairphone 5.

Ich bin überzeugt, dass nur sehr wenige Menschen bemerken würden, dass sie ein "limitiertes" Smartphone in den Händen halten. Ich persönlich denke, dass ich eventuell die Bildwiederholrate von 60 Hz statt 120 Hz bemerken könnte. Natürlich würde ich es bemerken, wenn ich die Grafiken meiner Spiele nicht mehr auf das Maximum einstellen kann.

Aber selbst wenn ich es bemerken würde, bin ich der festen Überzeugung, dass es meine Nutzererfahrung nicht zu sehr beeinträchtigen würde.

Kompromissbereitschaft bis an die Grenzen ausreizen

Je mehr ich mich mit dem Thema Nachhaltigkeit in der Tech-Branche beschäftige, desto mehr frage ich mich, wie ein Hersteller wie Fairphone wirklich Mainstream werden kann.

Um einen ausreichend großen Einfluss auf den Markt und unsere Konsumgewohnheiten zu haben, bedarf es massivem Zuspruch dieser Art von Produkten. Aber wie kann man Nutzer:innenr überzeugen, die nicht bereit sind, technische Zugeständnisse an ihren Geräten zugunsten der Nachhaltigkeit zu machen?

Der Fairphone-Vertreter sagte, dass hier durchaus einiges in Bewegung gerät. "Einige Leute sind bereit, zusätzliche Anstrengungen für die Nachhaltigkeit zu unternehmen. Anderen ist das egal und sie wollen keine Kompromisse eingehen. Was zählt, sind Komfort und Bequemlichkeit".

"Aber es gibt eine riesige Grauzone dazwischen. Viele Leute sehen diese Themen und wissen nicht genug darüber. Fairphone könnte für diese Menschen ein Einstiegspunkt sein und sie an diese Themen heranführen. So bekommt das Unternehmen selbst einen größeren Einblick in das, was hinter der Herstellung der Produkte steckt."

Und Miquel Ballester ist stolz darauf, dass "wir uns in diese Richtung weiterentwickelt haben. Heute wenden wir uns an einen Verbrauchertyp, der nicht bereit ist, Kompromisse einzugehen, sondern eine gute Kamera haben will. Und so entwickeln wir uns weiter. Wir verschieben Schritt für Schritt die Grenze der Kompromisse, die die Leute bereit sind, zugunsten der Nachhaltigkeit einzugehen, während wir uns unsererseits bemühen, bessere Produkte anzubieten."

No Ad to show
Fairphone hat sich beim Fotomodul des Fairphone 5 Mühe gegeben, mit zwei 50-MP-Objektiven auf der Rückseite und einer 50-MP-Selfie-Kamera. / © nextpit

Wäre ein Fairphone 6 mit ultrahochwertigen technischen Daten möglich?

Könnte man sich zum Beispiel ein Fairphone mit einem Snapdragon 8 Gen 3 vorstellen? Technisch gesehen wäre es möglich, aber ...

Wenn wir über Nachhaltigkeit sprechen, sprechen wir in erster Linie über Herstellungsprozesse und Lieferketten. Die Positionierung von Fairphone zu diesen Themen ist sehr interessant, aber damit sollte ich mich in einem eigenen Artikel befassen.

Bei der Nachhaltigkeit geht es auch und vor allem um die Nachhaltigkeit des Geräts an sich. Die Software-Nachhaltigkeit und die Hardware-Nachhaltigkeit. Die Anzahl der Android-Updates, die Fertigungsqualität und die Verfügbarkeit von Ersatzteilen.

Und es ist diese zwingende Nachhaltigkeit, die dazu führt, dass Fairphone derzeit nicht in der Lage ist, die neuesten Komponenten in seinen Smartphones zu verwenden. Ich habe dies in einem ausführlichen Artikel mit Agnès Crepet, der Verantwortlichen für Software- und Computer-Langlebigkeit bei Fairphone, erklärt.

In diesem Artikel erfahrt Ihr, dass die maximale Anzahl an Android-Updates, die ein Hersteller anbieten kann, sehr stark vom Hersteller des SoCs abhängt. Je länger die Unterstützung dauert, desto weniger lohnt es sich für den Chiphersteller. Ihr müsst also auf weniger hochwertige SoCs zurückgreifen, die in einer großen Anzahl von Geräten verbaut sind.

Technisch gesehen wäre es möglich, ein High-End-SoC in ein Fairphone einzubauen. / © karandaev / Adobe Stock / nextpit

Aber stellen wir uns vor, dass Qualcomm buchstäblich ausrastet. Das Unternehmen ernennt einen neuen CEO, der sich sehr stark für die Umwelt einsetzt. Ein Hardcore-Umweltschützer, der entscheidet, dass der Snapdragon 8 Gen 3 mindestens acht Jahre lang unterstützt wird.

Könnte Fairphone unter diesen Bedingungen ein Premium-Smartphone in Betracht ziehen? "Ja", erklärt Miquel Ballester, ohne zu schmunzeln. "Aber dann kommen wir zum Preis. Wir sind ein kleines Unternehmen. Wir haben nicht die Größenvorteile der großen Hersteller. Wir sind nicht teurer, weil wir langlebiger sind. Der Großteil des Geldes, das wir einnehmen, fließt wieder in den Kauf von Komponenten."

"Auch heute, mit dem Fairphone 5, haben wir immer noch nicht Zugang zu allen Komponenten, die wir uns wünschen. Wir können nicht zu exotisch sein, weil wir nicht das Volumen haben, das wir brauchen", bedauert Miquel Ballester.

Ist ein nachhaltiges Smartphone und Mainstream unvereinbar?

Es ist klar, dass eine der größten Herausforderungen für einen Hersteller wie Fairphone das Volumen ist. Man muss mehr Smartphones verkaufen, um für die Zulieferer attraktiver zu werden, also bessere Komponenten erhalten, um bessere Smartphones herzustellen und mehr Smartphones zu verkaufen usw.

No Ad to show

Dieser Kreislauf kann sowohl tugendhaft als auch bösartig sein. Ist es zum Beispiel wirklich nachhaltig, alle zwei Jahre ein neues Smartphone auf den Markt zu bringen?

"Alles ist eine Frage des Gleichgewichts. Man muss das Spiel mitspielen, das Geschäft nutzen, um etwas Gutes zu tun, und gleichzeitig sicherstellen, dass unsere Ziele immer mit unseren Verpflichtungen übereinstimmen."

"Im Moment habe ich das Gefühl, dass wir die richtige Balance in Bezug auf den Marketingzyklus gefunden haben. Wir bringen alle zwei Jahre ein Telefon heraus und haben festgestellt, dass dies der richtige Zeitpunkt ist, um auf dem Markt relevant zu sein, einen Medienmoment zu haben, in dem wir neue Produkte vorstellen und die Aufmerksamkeit der Netzbetreiber auf uns ziehen können. Wir können nicht mit einem Chip, der drei Jahre alt ist, zu einem Netzbetreiber gehen".

Nachhaltigkeit ist natürlich nicht nur bei Smartphones ein Thema. / © nextpit / © nextpit

Fazit

Ich persönlich glaube, dass wir nie das perfekte Gleichgewicht erreichen werden. Es wird immer technische Zugeständnisse geben, die man machen muss, wenn man ein nachhaltiges und ethisches Smartphone haben möchte. Aber ich glaube nicht, dass das etwas Schlechtes ist.

Beim Fairphone 5 z. B. bin ich der Meinung, dass die Nutzererfahrung absolut auf dem Niveau ist, das man von einem Smartphone im Jahr 2023 erwarten kann. Und ich habe wirklich Lust, mich von dieser Besessenheit von technischen Daten zu lösen.

Das ist für mich wahrscheinlich einfacher als für Euch, da ich die Smartphones, die ich täglich nutze, nicht kaufe. Sie werden mir von den Herstellern für meine Tests geliehen. Und der Wunsch, etwas für sein Geld zu bekommen, ist ein völlig legitimes Gefühl. Ich verurteile niemanden.

Ich bin nur der Meinung, dass die Erpressung mit Leistung und Neuheiten, die von den Herstellern praktiziert wird, eine giftige Strategie ist. Viele Umfragen in Europa zeigen, dass die Menschen ihre Smartphones länger nutzen wollen. Lest mal rein in die vorbereitende Studie zur Ecodesign-EU-Richtlinie. Ihr werdet sehen, dass Nachhaltigkeit ein viel wichtigeres Kaufkriterium ist, als wir in unserer kleinen Tech-Blase glauben mögen.

Auch ohne ethische Überlegungen möchte ich mein Smartphone länger behalten. Ich will, dass seine Leistung länger stabil bleibt. Ich will es auch nach zwei Jahren noch reparieren oder reparieren lassen können. Ich möchte länger Updates erhalten.

Und ich bin zunehmend bereit, einen gewissen Komfort zu "opfern", den mir die Illusion eines leistungsstarken Smartphones verleiht. Und Ihr?

No Ad to show
No Ad to show
MEHR ANZEIGEN

Kommentare

Kommentare

Beim Laden der Kommentare ist ein Fehler aufgetreten.

No Ad to show