Große Objektive auf Smartphones: Dumme Idee oder genialer Schachzug?

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Aus heiterem Himmel präsentierte Xiaomi einen Prototyp seines Flaggschiff-Smartphones 12S Ultra mit einem ausgefallenen M-Mount, der mit einem 5.000 Euro teurem Leica-Objektiv ausgestattet ist. Die chinesische Marke ist nicht die erste, die dieses Konzept ausprobiert, das auf den ersten Blick wie eine großartige Idee klingt. Tatsächlich ist sie aber bereits mehr als einmal gescheitert, wie wir uns in diesem Artikel erinnern.

Heureka-Moment (ach nee, doch nicht)

Erinnert Ihr Euch an damals, als Smartphones noch sehr kleine Sensoren mit weniger als 10 Megapixeln und ohne all die intelligenten KI-Funktionen besaßen? Damals beschlossen einige Kamerahersteller, dass der beste Weg zur Verbesserung der Handyfotografie darin besteht, ein normales Kameraobjektiv in ein Smartphone einzubauen.

Obwohl es ein (wirklich nischiges) Nischendasein führte, war das wohl bekannteste Beispiel für diese kurze Modeerscheinung das Sony Alpha QX1. Wie der Name schon sagt, gehörte es zur Alpha-Reihe der japanischen Marke, die Kameras mit Wechselobjektiven anbietet. Im Fall des QX1 handelte es sich um das E-Mount-System, das auch heute noch auf APS-C- und Vollformat-Kameragehäusen zum Einsatz kommt.

Das QX1 kann mit einer Clip-on-Halterung an einem iPhone oder Android-Handy befestigt werden (im Bild das Xperia Z1). / © Sony

Tatsächlich kann das QX1-Kameramodul mit einem Adapter sogar mit alten A-Mount-Objektiven (Minolta) verwendet werden und mit inoffiziellen Adaptern wahrscheinlich auch mit einer großen Auswahl anderer Objektive. Für diejenigen, die kein kompatibles Objektiv hatten, bot Sony ein Kit mit dem kompakten Powerzoom-Objektiv SELP1650 an, das auch heute noch mit einigen Kameras verkauft wird.

Das im September 2014 auf den Markt gebrachte Modul ILCE-QX1 konnte als eigenständige Kamera verwendet werden, da es über einen Akku (das gleiche NP-FW50-Modell, das in Dutzenden von Sony-Kameras verwendet wird), einen Auslöser, einen Speicherkartensteckplatz (kompatibel mit microSD und Memory Stick Micro) und ein Stativgewinde verfügte.

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Da es jedoch keinen Bildschirm hatte, mussten die Benutzer:innen das mitgelieferte Clip-on-Zubehör verwenden, um die QX1 an einem iPhone oder Android-Gerät zu befestigen und sie mit der PlayMemories/Imaging Edge-App zu steuern. Die Kommunikation erfolgte über eine Wi-Fi-Verbindung, die über NFC hergestellt werden konnte.

Jeder, der Imaging Edge bereits mit einer unterstützten Sony-Kamera verwendete, versteht, warum die App nicht lange überlebt hat, trotz anfänglich hoher Verkaufszahlen. Der Kopplungsprozess ist nicht immer nahtlos und die Verbindung ist immer noch unzuverlässig. Die DSC-QX-Modelle mit festem Objektiv konnten sich jedoch noch eine Weile auf dem Markt halten.

Ein neuer Herausforderer im Anmarsch

Olympus, der Hauptkonkurrent von Sony in der Anfangszeit der spiegellosen Kameras, wartete nicht ab ob das QX-Konzept ankommen würde, und brachte schon bald seine Air 01 heraus. Die im Februar 2015 auf den Markt gebrachte Clip-on-Kamera von Olympus folgte demselben Design wie die Sony-Alpha-Kamera und verfügte über einen Akku, einen microSD-Steckplatz, einen Verschluss und ein Stativgewinde.

Die Hauptunterschiede zwischen Air 01 und QX1 bestehen darin, dass das Olympus-Modell das Micro-Four-Thirds-Objektivsystem – damals mit einer größeren Auswahl an Objektiven – anstelle des E-Mount verwendete und auch Bluetooth für eine schnellere Kopplung unterstützte.

Sowohl Sony als auch Olympus betonten die kreativen Möglichkeiten, die sich aus der Trennung des Displays vom Kameragehäuse ergeben. / © Olympus

Zurück zu den Gemeinsamkeiten: Genau wie bei der Sony QX1 gab es auch bei der Olympus Air kein zweites Modell. Der mangelnde Erfolg der Japaner hielt andere Unternehmen jedoch nicht davon ab, mit der Idee zu spielen.

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Der Angriff der lebenden Toten

Ein paar andere ähnliche Modelle wurden angekündigt, vermoderten aber in der Vaporware-Abteilung. Das eine war das Yongnuo YN43, das, wie der Name schon sagt, einen Sensor in Four-Thirds-Größe besaß, aber gepaart mit einem Canon-SLR-Anschluss.

Die andere war eine Vaporware-Kombination von Sakar International, die nicht nur eine, sondern gleich zwei historische "Zombie-Marken" umfasste. Das Unternehmen konnte die Kamera iM1836 mit eigenem Anschluss unter der Marke Polaroid nicht auf den Markt bringen, weil sie dem Modell Nikon 1 J1 so ähnlich war, dass es zu einem Rechtsstreit kam. Danach kündigte der Hersteller das Clip-on-Kamerasystem IU680 unter der Marke Vivitar an, das den gleichen Objektivanschluss (und das gleiche Blitzmodul) verwendet.

Jede Menge Logos: Nachdem der Verkauf der Polaroid iM1836 (links) verboten wurde, recycelte die Holdinggesellschaft den Objektivanschluss für die Vivitar IU860 (ignoriert das Zeiss-Logo). / © Sakar International

Wie die Polaroid-Kamera verschwand auch die Vivicam IU680 still und heimlich, nachdem sie auf Fachkonferenzen gezeigt wurde ...

Eine neue Hoffnung

Im Jahr 2020 beschloss ein britisches Startup-Unternehmen, dass es an der Zeit war, die Formel zu überarbeiten. Obwohl die Alice Camera einen bewährten Micro-Four-Thirds-Anschluss verwendet, versucht sie etwas Neues auf den Tisch zu bringen: KI und computergestützte Fotografie-Funktionen. Ursprünglich für Oktober 2021 geplant, ist die Alice Camera – wie sehr viele ambitionierte Crowdfunding-Projekte – spät dran.

Im Großen und Ganzen funktioniert das Zubehör ähnlich wie die Clip-on-Kameras von Sony und Olympus. Allerdings mit einem kräftigeren Handgriff, der die Ergonomie verbessern soll, während einige der kreativen Möglichkeiten verloren gehen, weil die Kamera am Telefon befestigt werden muss.

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Wie bei allen Buzzword-gefluteten Crowdfunding-Projekten ist es wahrscheinlich am besten, die Testberichte und die erste Produktionscharge abzuwarten, bevor Ihr eine Kamera vorbestellt ...

Fallstricke

Auch wenn Xiaomi sein Modell als Konzept-Handy vorstellte, wird der Prototyp des Xiaomi 12S Ultra vor ähnlichen Herausforderungen stehen wie Sony und Olympus – oder auch wie andere exotische Modelle, zum Beispiel die Panasonic DMC-GM1, die Samsung Galaxy Camera oder das Hasselblad-Modul für die Moto-G-Reihe.

Die erste Herausforderung ist die Ergonomie: Enthusiasten (vor allem die mit M-Mount-Objektiven) schätzen wahrscheinlich Dinge, die man bei Messsucherkameras findet, wie den zweistufigen Auslöser, Wahlräder und den süßen roten Punkt, der (für Euch) mehr wert ist als jede angebissene Frucht.

Das zweite Problem ist das Gewicht. Auch wenn M-Mount-Objektive standardmäßig kompakt sind, wird das System durch die Verwendung eines Adapters für das Auflagemaß (FFD) noch schwerer. Und das, obwohl es einen kleineren Sensorbereich abdecken muss als das ursprüngliche Vollformat/35 mm, für das die Objektive entwickelt wurden. Das verschärft dann zusätzlich das Problem der Ergonomie.

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Die QX-Kameras, die Air 01 und sogar die Kodak-Pixpro-SL-Linie mit festem Objektiv hatten ein Stativgewinde, um die (nicht taktilen) Buttons leichter erreichen zu können, was der M-Mount-Adapter nicht zu bieten scheint.

Für all das Glas oben könntest du wahrscheinlich ein Ticket ins Weltall kaufen. / © Leica

Und schlimmer noch: Käme das modifizierte Xiaomi 12S Ultra tatsächlich in den Handel, würde es einen noch überschaubareren Nischenmarkt bedienen und mit einer kleineren Auswahl an wesentlich teureren Objektiven arbeiten, als sie in den Micro-Four-Thirds und E-Mounts zu finden sind.

Trotz all dieses Pessimismus ist es schön zu sehen, dass Smartphone-Unternehmen immer noch über den Tellerrand hinausschauen. Vor allem, da wir jedes Jahr eh schon immer weniger Innovationen sehen. Und die aktuellen Alternativen beschränken sich auf minderwertige Objektive, die auf die normalen Kameras in unseren Handys montiert werden.

Was ist mit Euch? Seid Ihr mit den aktuellen Fortschritten in der Computerfotografie zufrieden oder kommt Ihr auch in Wallung, wenn ein ausgefallener Prototyp vorgestellt wird? Verratet uns Eure Lieblingskonzepte und -modelle unten in den Kommentaren!

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