Ob die Odyssee von Realme mit dem Durchbruch in Europa, die große Tragödie von Huawei, die Komödie der Flaggschiff-Sparte auf Suche nach dem Alleinstellungsmerkmal: Auf den Brettern der Smartphone-Welt war 2020 viel geboten. Und dann ist da noch der Harlekin Samsung, der aller Absurditäten zum Trotz über alle Widrigkeiten erhaben scheint.
Die Vorstellung kann beginnen. Vorhang auf!
Akt 1: Die Odyssee von Realme in Europa: Xiaomi auf Steroiden?
Realme ist die dynamischste und am schnellsten wachsende Marke in Südostasien, insbesondere in Indien. Laut der Analysefirma Counterpoint Research verzeichnete der Hersteller im ersten Quartal 2020 ein Wachstum von +157% gegenüber dem Vorjahr. Klaro: In Europa ist Realme noch nicht auf dem Niveau von Xiaomi, das in der Marktanteil-Rangliste der Hersteller auf den vierten Platz geklettert ist.
So beeindruckend das Wachstum von Xiaomi in seiner zehnjährigen Geschichte ist: Realme spielt in einer anderen Liga. Die Marke ist gerade einmal zwei Jahre alt! Zwei! Natürlich bekam Realme mit dem Mutterkonzern BBK Electronics das Glück in die Wiege gelegt – und mit dem Oppo-Real-Brand tourte der geistige Vorläufer von Realme bereits ab 2010 durch China.
Der erste Paukenschlag im Flaggschiff-Segment gelang X3 SuperZoom liegen nicht einmal sechs Monate.
Einen vergleichbare Device-Flut haben wir bislang bei kaum einer anderen Marke zuvor gesehen. Aber wie die Zahlen von Counterpoint zeigen: Diese Flut zahlt sich aus. Realme ist global bereits auf dem siebten Platz mit einem Marktanteil von 7,2 Prozent – Tendenz steil steigend.
Akt 2: Die Tragödie von Huawei: O Wut, O feindliches Embargo?
Allen Embargos zum Trotz: Huawei verkauft weiterhin seine Smartphones, und sie verkaufen sich den Umständen entsprechend gut. Nachdem das Unternehmen im April zum ersten Mal in seiner Geschichte Samsung überholt hatte, bestätigte Huawei im Mai seine Position als weltweit führender Hersteller in Bezug auf den Marktanteil.
Die von uns getesteten Huawei P40 und P40 Pro waren überzeugende Flaggschiffe mit wirklich toller Hardware. Das Huawei P40 Pro+ schließlich gewann unseren halbjährlichen Fotoblindtest noch vor den Flaggschiffen von Samsung oder OnePlus. Aber oh weh... die Software.
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In den Zahlen schlägt sich das noch nicht so deutlich nieder: Laut Counterpoint Research erreichte Huawei im Mai einen Marktanteil von 19,7%, während es Samsung auf 19,6% bringt. Im Vormonat April erzielte Huawei noch einen Marktanteil von 21,4%, Samsung kam auf nur 19,1%. Es deutet sich also ein Platztausch an der Spitze an.
Auch auf anderem Terrain sehen die nächsten Monate für Huawei nicht unbedingt rosig aus. So wird Huaweis Chipsparte HiSilicon nicht in der Lage sein, bei TSMC als Hersteller seine Kirin-Mobil-Chips zu fertigen.
Dennoch: Wir dürfen den chinesischen Riesen noch nicht begraben, der sich weiterhin an allen Fronten gegen die Auswirkungen des amerikanischen Embargos wehrt. Ich finde es trotzdem jammerschade, welch tolle Smartphones uns gerade entgehen – denn ganz ehrlich: So richtig ohne Google geht's noch nicht.
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Akt 3: Flaggschiff-Komödie: Auf der Suche nach dem verlorenen Killer-Feature
Solange es Smartphones gibt, hat die Jagd nach *dem* neuen Killer-Feature seltsame Blüten getrieben. Zumindest konnte sich das vielbeworbene 5G nicht als Killer-Argument durchsetzen, auf das die Hersteller so sehr hoffen. Vor allem gilt das für Europa, wo der Ausbau von 5G zögerlich voranschreitet – und noch kein allzu großes Verständnis für den Nutzen da ist.
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Wenn 5G dann tatsächlich einmal in der Breite und als Standalone-Version verfügbar ist, werden die 5G-fähigen Smartphones von heute bereits womöglich veraltet sein. Zumal 5G längst nicht mehr nur dem Motorola Moto G 5G Plus.
Infolgedessen verbiegt man sich, manchmal buchstäblich, in der Hälfte, um sich von der Konkurrenz abzuheben. Aber wen soll man davon überzeugen, dass ein 1500-Euro-Smartphone mit Mittelklasse-Hardware eine vernünftige Anschaffung ist?
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Auch der Trend zu möglichst vielen Kameras treibt seltsame Blüten. Tiefensensoren für Portraits mit der Hauptkamera sind überflüssig, ist ein Ultra-Weitwinkel-Objektiv verbaut. Makrokameras mit 2 Megapixeln bringen meist trotz geringerer Naheinstellgrenze weniger Details aufs Bild als eine Hauptkamera mit 64 oder 108 Megapixeln. Es ist bizarr – aber Hauptsache, im Datenblatt steht "Quad-Kamera".
Wo soll das hinführen? Brauchen wir Displays mit 500 Hz Bildwiederholfrequenz? Brauchen wir Smartphones mit zehn Kameras? Brauchen wir Schnellladen mit 125 Watt?
Akt 4: Das absurde Theater der Kamera-Smartphones
Wie im letzten Akt schon angeschnitten: In Ermangelung neuer Killer-Features konzentrieren sich die Hersteller auf das mit beliebteste Feature ihrer Smartphones: das Fotomodul.
Und in diesem Punkt hat 2020 tatsächlich so etwas wie Innovationen etabliert. Wir haben beispielsweise über das Oppo Find X2 Pro mit seinem Sony IMX689-Sensor gestaunt – und über den rasend schnellen Autofokus, den die 2x2-OCLs ermöglichen.
2x2-was? 2x2-On-Chip-Lens bedeutet, dass bei dem Hauptsensor nicht nur wie inzwischen branchenüblich mehrere Pixel unter einem Farbfilter stecken, sondern sich auch 2x2, also vier Pixel eine Mikrolinse teilen. Dieser Trick verwandelt jedes Pixel-Quartett des Sensors zusätzlich in einen PDAF-Autofokussensor, wodurch das Smartphone einen wirklich krass ultraschnellen Autofokus hat.
Aber es gab auch viel Schall und Rauch, vor allem beim Zoom: Der 100-fache optisch-hybride Sonstwas-Zoom des Samsung Galaxy S20 Ultra suggeriert einen Brennweitenbereich von beispielsweise 13 bis 1300 Millimetern im Kleinbild-Äquivalent – oder 26 bis 2600 Millimetern.
Wie weit Wunsch und Wirklichkeit auseinanderliegen, zeigt dann ein Blick ins Datenblatt, wo sich tatsächliche Brennweiten zwischen 13 und 103 Millimetern wiederfinden. Macht nach Adam Riese einen etwa achtfachen optischen Zoom. Nein, das Präfix "hybrid" rechtfertigt nicht die Differenz von 1262 Prozent.
Die Antwort auf die Frage "Woher kommt der 100x?" ist einfach: aus der Phantasie der Produktmanager von Samsung. Im Gegensatz zu den optischen Zooms "echter" Kameras hat dieses "100x" absolut nichts mit den optischen Fähigkeiten des Kamerasystems zu tun.
Akt 5: Flaggschiff-Killer aus der Operette
Genau wie das Flaggschiff-Konzept verliert das Konzept "Flagschiff-Killer" im Jahr 2020 sein Fundament. Wenn mir das Poco F2 Pro einen Hoffnungsschimmer geben konnte, so löschte der Einführungspreis von 600 Euro den letzten Funken Optimismus aus.
Vorbei sind die Zeiten des Flaggschiff-Killers, wir haben es jetzt mit Smartphones der Mittelklasse zu tun, die zwar den Anspruch erheben, Premium zu sein, aber eindeutig nicht High-End sind. In diesem Akt, der an Orpheus' Abstieg in die Hölle erinnert, versuchen zwei Tenöre, uns in ihre disharmonischen Lieder einzulullen: Apple und OnePlus.
Einerseits möchte Apple uns davon überzeugen, dass ein iPhone 8 ein Flaggschiff-Killer ist. Ja, das iPhone 8, denn nichts anderes ist das iPhone SE 2020 mit einem SoC der neuesten Generation und iOS 13 zu einem Preis von knapp 500 Euro.
Auf der anderen Seite flüstert uns OnePlus ins Ohr, dass sein OnePlus Nord mit einem Midrange-Chipsatz und einem ebenso mittelmäßigen Fotosensor auch nur annähernd ein Flaggschiff-Smartphone. Nein!
Eines sei OnePlus zu Gute gehalten: Mit dem OnePlus Nord bemühen sich die Chinesen tatsächlich um einen möglichst günstigen Preis. Apple hingegen weicht mit dem iPhone SE 2020 nicht von seiner Premium-Bepreisung ab – die Hardware zumindest kann man nur schwerlich konkurrenzfähig finden. Andererseits gibt es eine Eintrittskarte zum Apple-Universum eben nicht billiger. Wer Porsche fahren will, muss eben auch Porsche zahlen.
Das war's, die Show ist vorbei. Welches Zwischenfazit zieht Ihr Mitte 2020? Welche Trends haben Euch dieses Jahr begeistert? Ich freue mich auf Eure Kommentare!
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