Die Frage stellt sich auch für uns, ein technisches Medium, das kritisiert werden könnte, weil es über ein Thema spricht, für das es sonst nicht steht. Es gibt darauf keine einfache Antwort. Seit dem Tod von George Floyd, der am 25. Mai in Minneapolis von einem Polizisten getötet wurde, ist das gesellschaftliche Klima in den Vereinigten Staaten selten so heiß gewesen. Ein Klima von Volksaufständen und Demonstrationen, sowohl friedlich als auch gewalttätig, gegen einen systemischen Rassismus und Polizeigewalt, die den American Way of Life plagen.
Logischerweise wird die öffentliche Debatte von vielen politischen Akteuren, Aktivisten, Polemikern, Stars und Sternchen und sogar Marken geführt. Allein im technischen Bereich haben Google, Sony, EA oder Microsoft ihre jeweiligen für Juni geplanten Events abgesagt. Sony fügte sogar hinzu, dass "wichtigere Stimmen gehört werden müssen", die sich offiziell für die Sache der Demonstranten einsetzen.
— PlayStation (@PlayStation) June 1, 2020
Andere Technologieunternehmen, wie zum Beispiel Twitter, mischen sich aktiv in die öffentliche Debatte ein. Der Social-Networking-Gigant hat sich in den vergangenen Tagen einen Namen gemacht, indem er Tweets von Donald Trump und anderen politischen Persönlichkeiten rund um Anti-Rassismus-Proteste in Minneapolis und im Rest des Landes moderiert.
Aber inwieweit können sich private Unternehmen mit privaten Interessen, die nicht die Öffentlichkeit vertreten, an dem öffentlichen Diskurs beteiligen? Totale Neutralität ist im aktuellen Fall Unsinn, und dennoch sind die nachfolgenden Zeilen auch sowas, wie meine persönliche Meinung. Dabei empfinde ich es als durchaus störend, wenn Personen sich Themen annehmen, die sich eigentlich ihrer Kontrolle entziehen oder gar ihren Horizont überschreiten.
Unternehmen und Marken können kein Auge zudrücken...
Als Marke besteht das erste Ziel darin, eine Beziehung zu ihren aktuellen und potenziellen Verbrauchern aufzubauen. Eine Vertrauensbeziehung, indem sie sich selbst identifizierbar macht. Eine Marke, die nicht losgelöst von meiner Realität agiert, die berücksichtigt, was um mich herum geschieht, zeigt, dass sie sich für mich interessiert.
Wir haben es zum Beispiel bei Nike mehrfach gesehen, die oft auf einer Welle gesellschaftlicher Polemik surfen, um Produkte oder Werbekampagnen auszurichten. Dies war der Fall beim Verkauf des Hijab für den Sport, während beispielsweise in Frankreich eine ähnliche Initiative von Décathlon an der Kontroverse scheiterte.
Ein weiteres Beispiel, das mehr mit dem aktuellen Kontext zusammenhängt, war die Nike-Kampagne mit Colin Kaepernick, einem amerikanischen Fußballspieler, der zu einem Symbol des Protests gegen Polizeigewalt und Rassenhass geworden war.
Together is how we move forward.
— adidas (at 🏡) (@adidas) May 30, 2020
Together is how we make change. https://t.co/U1nmvMhxB2
In den beiden oben genannten Fällen folgte ein kommerzieller Börsenerfolg für Nike, aber auf der anderen Seite gab es auch einen öffentlichen Aufschrei, der die Initiative von Nike geißelte und sogar zum Boykott seiner Produkte aufrief. Zugegebenermaßen waren einige der Kritiker "ideologische" und politische Gegner der Black Lives Matter-Bewegung – und sicherlich waren einige auch rassistisch motiviert.
Es gab aber auch Gegner der Kampagne, die darin schlicht einen Opportunismus sahen, nur um mit einem sozialen Kontext Menschen dazu zu bringen über die Marke zu reden und um so den Verkauf anzukurbeln. In der Technik trifft dieselbe Kritik noch mehr zu. Warum nimmt Sony Playstation Stellung zum Antirassismus in den USA? Was genau legitimiert Sony dazu?
— PlayStation (@PlayStation) June 1, 2020
Sicherlich ist es eine ständige Kritik, dass in dieser Ära des zunehmenden "Aufwachens" oder des zunehmenden Bewusstseins für gesellschaftliche Fragen auf Marken Bezug genommen wird. Viele Unternehmen stellen sich auf die Seite des "Guten", um ihr Image aus rein kommerziellem Interesse zu verbessern.
We are excited to tell you more about Android 11, but now is not the time to celebrate. We are postponing the June 3rd event and beta release. We'll be back with more on Android 11, soon.
— Android Developers (@AndroidDev) May 30, 2020
Meiner Meinung nach ist dies eine logische und notwendige Entwicklung der Marken, um sich an eine Gesellschaft mit sich ändernden Sitten anzupassen – auch wenn diese Entwicklung nicht ganz uneigennützig ist. An dieser Stelle sollte allerdings ein Schlussstrich gezogen werden. Eine Technikmarke kann einen bestimmten Kontext oder ein aktuelles Ereignis wie landesweite Anti-Rassismus-Demonstrationen nicht so stark ignorieren. Es ist nur natürlich, dass es darüber spricht. Aber Partei ergreifen?
Wenn Privatunternehmen in die öffentliche Debatte eintreten
Für Marken wie Sony, Google oder Microsoft sehe ich kein Problem, öffentlich Widerstand gegen Rassismus und Polizeigewalt zu leisten. Daher finde ich die Absage von Veranstaltungen ganz logisch und begrüße Initiativen von Unternehmen, die zeigen, dass sie sich der Herausforderungen des gegenwärtigen sozialen Klimas bewusst sind.
Es gibt in der Tat Dinge, die im Moment wichtiger sind als die neue PS5 und Android 11. Was ich aber als gefährlich empfinde, ist die Tatsache, dass diese Marken Partei ergreifen. Nur um Missverständnissen vorzubeugen: Es gibt keine zwei Seiten in der Frage des Rassismus. Man kann nicht "für" Rassismus sein und ihn rechtmäßig verteidigen. Ich denke, da sind wir uns alle einig.
Wenn ich von "Partei ergreifen" spreche, dann meine ich damit die Tatsache, dass die öffentliche Debatte über systemischen Rassismus und die Organisation seiner Ausrottung, politische Lager gegeneinander ausspielt: Antirassistische Bewegungen wie Black Lives Matter und andere, die mit polizeifreundlichen (Blue Lives Matter) oder universellen (All Lives Matter) Strömungen konfrontiert sind, aber auch rassistische Bewegungen.
In diesem Fall ist es vor allem der Fall von Twitter, den ich hier beunruhigend finde. Die Plattform hat wiederholt Tweets von Donald Trump moderiert, darunter auch einen Tweet im Zusammenhang mit den Protesten in Minneapolis, weil er gegen "Twitters Richtlinien zu Gewaltverherrlichung" verstieß.
Zugegebenermaßen ist die Tatsache, dass der amerikanische Präsident den Demonstranten droht, man werde "wenn sie anfangen zu plündern, anfangen zu schießen", fragwürdig. Und ich verstehe in gewisser Weise die Moderation von Twitter. Trotzdem finde ich es unangebracht, wie Twitter die Black Lives Matter-Bewegung im wahrsten Sinne des Wortes annimmt und seinen Hashtag in der Biographie anpasst.
Racism does not adhere to social distancing.
— Twitter Together (@TwitterTogether) May 29, 2020
Amid the already growing fear and uncertainty around the pandemic, this week has again brought attention to something perhaps more pervasive: the long-standing racism and injustices faced by Black and Brown people on a daily basis. 🧵 pic.twitter.com/8zKPlDnacY
Es ist nicht so, dass ich gegen diese Bewegung bin. Aber es beunruhigt mich, dass eine Plattform wie Twitter in einem sozialen Kampf Partei ergreift und gleichzeitig danach strebt, ihr Schiedsrichter zu sein. Zumal die Plattform, genau wie Facebook, dafür bekannt ist, hasserfüllte Inhalte zu beherbergen und Schwierigkeiten hat, deren Verbreitung zu verhindern.
Das Moderieren impliziert Unparteilichkeit
Laut Mark Zuckerberg sollten Plattformen nicht "die Rolle von Schiedsrichtern spielen", weshalb Facebook und Twitter politische Persönlichkeiten wie Trump bisher von den meisten ihrer Regeln ausgenommen haben. All dies zum Wohle der Achtung der Meinungsfreiheit, die in den USA ein noch viel höheres Gewicht hat, wie in den meisten Teilen Europas.
Ich teile auch nicht den Ansatz von Mark Zuckerberg. Moderation zum Nulltarif ist eine Entmachtung, die auch Youtube schon mit seinem "Safe Heaven"-Status aufgeben musste: Nur eine Plattform zu sein, die schlicht Content hostet und daher nicht für die Art der Inhalte verantwortlich ist. Dieser Status ist in Abschnitt 230 des "Communications Decency Act" vorgesehen, einem Text, den Trump ändern möchte, so dass er nicht mehr für Twitter gilt.
To be silent is to be complicit.
— Netflix (@netflix) May 30, 2020
Black lives matter.
We have a platform, and we have a duty to our Black members, employees, creators and talent to speak up.
Ich glaube nicht, dass "Stillschweigen das Gleiche ist, wie ein Mittäter zu sein", wie Netflix über die Ereignisse in Minneapolis twitterte. Meiner Meinung nach gibt es für ein Unternehmen jedweder Art eher keinerlei Verpflichtung sich zu äußern.
Für mich sollte es nicht das Ziel sein, nur "zu reden, um kein Mittäter zu sein". Vielmehr wäre es dagegen erstrebenswert für beide Seiten überhaupt gar nicht erst zum Mittäter zu werden. Man sollte zeigen, dass die Ernsthaftigkeit eines Problems und seine Herausforderungen anerkannt werden.
Dies sollte jedoch geschehen, ohne kommerzielle Hintergedanken, indem Handlungen, die zumindest auch selbst nur teilweise marketingorientiert sind, einen politischen Kontext haben.
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