“Digital Wellbeing Experiments”: Google verniedlicht den Ernst der Lage

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Als Google seine Digital-Wellbeing-Initiative als Teil von Android 9 Pie startete, stieß sie in unserer Redaktion auf einige Skepsis. Manche Kollegen hielten es für Heuchelei, Smartphone-Sucht mit Smartphone-Funktionen zu bekämpfen. Ich hingegen dachte mir: "Besser als nichts!" Es ist zumindest ein Schritt in die richtige Richtung. Doch nach dem Start von Googles "Digital Wellbeing Experiments" laufe auch ich Gefahr, mich meinen skeptischen Kollegen anzuschließen.

Google gibt sich besorgt um unser digitales Wohlbefinden. Die Nutzer sollen weniger Zeit am Telefon verbringen und so wieder ein Gleichgewicht zwischen analoger und digitaler Welt finden. Nun geht der Tech-Konzern über die Android-9-Funktionen hinaus. Seine "Experiments"-Abteilung kommt mit einigen eigenen Projekten daher, die unsere Smartphone-Sucht heilen sollen. Es klingt ein bisschen wie ein Kneipenwirt, der seine Kunden zum "Dry January" animiert. Und neben dem offensichtlichen Interessenkonflikt betrachte ich diese Experimente (an uns) noch aus vielen anderen Gründen mit Skepsis.

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Welche Art von Experimenten macht Google?

Spätestens nach unserer Vorstellung in den Apps der Woche seid Ihr vielleicht auf die Digital Wellbeing Experiments gestoßen. Ihre Umsetzung reicht von ganz vernünftig bis lächerlich. Post Box zum Beispiel begrenzt die Frequenz, mit der Apps Benachrichtigungen schicken dürfen. So könntet Ihr Euch nur ein- oder zweimal am Tag über E-Mails benachrichtigen lassen, ganz nach dem Vorbild Eures physischen Postkastens. Keine dumme Idee, denn diese Entschleunigung kann schon ein großer Beitrag sein hin zu mehr digitalem Wohlbefinden. Manche Chat-Apps bieten eine ähnliche Funktion bereits nativ.

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Dann aber gibt es Paper Phone. Wie das aussieht? Ihr druckt alles aus, was Ihr heute mit dem Smartphone nachgeschlagen hättet: Termine, Telefonnummern, Adressen und Routen, Wettervorhersage. Ihr könnt Eure Kreditkarte in das Papierphone falten und kontaktlos zahlen. Mit dem vermutlich besten faltbaren Telefon ever geht Ihr dann aus dem Haus und das Smartphone lasst Ihr daheim. Dieses vorausschauende Planen kennt weckt Erinnerungen an die Vor-iPhone-Zeit und wird Kinder der Neunzigerjahre nostalgisch stimmen.

Wenn das noch nicht schräg genug war, werdet Ihr meine neu aufkommende Skepsis spätestens mit Envelope nachempfinden können. Mit einer Reihe von – ebenfalls aus Papier ausgedruckten – Umschlägen sollt "Ihr Euer Telefon vorübergehend in ein Dumbphone verwandeln. Das soll Euch helfen, eine Pause von der digitalen Welt zu machen.", beschreibt Google das Experiment.

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Die Kombination aus App, Google Pixel 3a und einem der Einweg-Umschläge transformiert das teure Smartphone in ein einfaches Handy, das nur Anrufe tätigen und empfangen kann. Ein anderer Umschlag verwandelt Euer Smartphone in eine Foto- und Videokamera ohne Bildschirm. Die Umschläge liegen im PDF-Format vor, derzeit passen sie jedoch lediglich auf das genannte Pixel 3a. Und gemäß Video werden sie nicht mehrfach verwendet.

Wie im Video zu sehen, reduziert die Envelope-App in Kombination mit dem Papier die Benutzeroberfläche Eures Smartphones auf das Wesentliche. Das durch das Papier schimmernde Licht reicht für einfache Infos wie die Zeitanzeige noch aus. Auch beim Wählen von Telefonnummern hilft das Licht-Feedback des Displays.

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Das ist ja ganz nett, aber …

Versteht mich nicht falsch. Ich habe grundsätzlich nichts gegen diese Art von Experimenten. Aber mit den Digital Wellbeing Experiments wird es doch zunehmend lächerlich. Es ist eine Sache, eine App herunterzuladen, die uns für eine bestimmte Zeit von der Nutzung unseres Telefons abhält. Es ist aber eine andere Hausnummer, sein Pixel 3a in eine ausgedruckte Wegwerf-Hülle zu wickeln, um es in ein Dumbphone zu verwandeln.

Natürlich handelt es sich hierbei nur um Experimente. Google präsentiert uns ungefiltert neue Ideen und sieht dann, was hinterher wirklich hängen bleibt. Aber die zunehmende Absurdität der Projekte, kombiniert mit den fast augenzwinkernden Erklärungsvideos, hat meines Erachtens ein Geschmäckle. Es gibt mir das Gefühl, Google nehme das Thema des digitalen Wohlbefindens nicht ganz ernst. Stattdessen greift der Konzern ein reales Gesellschaftsproblem auf und verwandelt es in etwas, das wir auf den Social Media (die uns die Sucht erst eingebrockt haben) für ein paar Likes teilen können.

Mit den Smartphones ist es wie mit Alkohol oder Nikotin. Wer sein digitales Gleichgewicht wiederherstellen will, braucht Willenskraft und Motivation. Kann Googles Envelope als digitales Nikotinpflaster dienen? Theoretisch, ja. Aber wenn Google sich im eigenen Marketing-Video dafür auslacht, verspielt es die Chance auf ernsthaftes Interesse.

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Nur dass Ihr es wisst: Aus Googles Kreativ-Abteilung kommen auch deutlich praktischere Entwicklungen als ein Papierumschlag. Die neue Bildschirm-Stoppuhr ist meines Erachtens ihr bester Beitrag zum Thema Digitales Wohlergehen. Es handelt sich hierbei um einen Live-Hintergrund, der Euch Eure tägliche Nutzungsdauer Eures Telefon vor Augen hält. Die Stoppuhr zählt auf die Sekunde genau mit, sobald Ihr Euren Bildschirm entsperrt. Die Schmach skaliert mit der Größe Eures Bildschirms, da die anprangernde Stoppuhr umso größer ausfällt.

Die Bildschirm-Stoppuhr zeigt Euch, wie lange Ihr heute schon aufs Handy gestarrt habt. / © Google

Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich lieber mehr Projekte wie Screen Stopwatch und weniger wie Envelope sehen. Denn falls Google unser digitales Wohlergehen wirklich ernst nimmt – was ich irgendwie bezweifle – darf es eine Bemühungen dazu nicht länger als Satire darstellen.

Was sagt Ihr dazu? Habt Ihr schon eines von Googles Experimenten ausprobiert? Lasst uns in den Kommentaren wissen, was Ihr für Euer digitales Wohlbefinden tut.

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